Es wirft einem immer wieder kleine Brocken hin. Hier eine Tonbandaufnahme, dort ein Plakat an der Wand, dazu Funksprüche, kuriose Räumlichkeiten. Am Ende steht man da, mit einem Berg an Puzzleteilen, die zusammengesetzt werden wollen. Bioshock erfordert, selbst nachzudenken, um in der Vielzahl an Einzeleindrücken ein Gesamtbild zu erkennen. Doch es belohnt dafür, denn dieses Bild ist sehr viel klarer, als es zuerst den Anschein haben mag.
Wenn du die Geschichte von Bioshock noch nicht kennst, wird dir dieser Artikel mit Sicherheit den Spaß am Spiel verderben, denn er verrät sehr viele Details. Stattdessen sei die englischsprachige Spielbesprechung bei eurogamer.net empfohlen. Oder ohne Umwege das Spiel zu kaufen, zu spielen und dann mitzudiskutieren.
»Das Schöne ist immer bizarr«, soll Charles Baudelair einmal gesagt haben. Dieser Satz trifft nur auf wenige Spiele so zu wie auf Bioshock, denn im Spiel wimmelt es nur so von Orten, Personen und Momenten, die auf sehr sonderbare Weise schön und zugleich abstoßend sind. Wie der Augenblick, als sich das Atrium von Fort Frolic im Scheinwerferlicht in eine Bühne verwandelt und man sich den mit Hasenmasken kostümierten Angreifern zu Klängen aus Tschaikowskys Blumenwalzer erwehren muss.
Überhaupt, die Liebe zum Detail bei der Gestaltung der Level. Wann hat man in einem Videospiel schon einmal Orte gesehen, die so spürbar Geschichte atmen wie die in Bioshock? Unterstützt von Tonbandaufnahmen erklären sich beispielsweise die Tode von Dr. Suchong und von Diane McLintock praktisch allein aus dem Leveldesign. Man sieht, was passiert ist. Ab und an werden, wie im Falle Jasmine Jolenes, Flashbacks in die Vergangenheit als Hilfsmittel benutzt. Cutscenes dagegen benötigt Bioshock nur sehr selten.
Die Tonbandaufnahmen sind dabei allerdings nicht ungefährlich. Längst vergangene Ereignisse schildernd bedienen sie sich wie ein Hörspiel im Spiel der mächtigsten aller Grafikengines: der menschlichen Fantasie. Gestalten wie Dr. Steinman oder Sander Cohen verlieren deutlich an Charisma, sobald sie tatsächlich die Bildfläche betreten.
Die kleinen Geschichten, ständig ausgestreuten Hinweise waren eine Sache, die mich durch das Spiel gezogen hat. Von der Spielmechanik her war es Ken Levines offen zu Tage tretendes Bedürfnis, all das in Bioshock zu pressen, was ihm in anderen Spielen irgendwann einmal Spaß gemacht hat. Der Fotoapparat aus Beyond Good and Evil, das Zaubern aus Dark Messiah, die Gravity Gun aus Half-Life 2, der Minitornado des Druiden aus World of Warcraft. Die Möglichkeiten, die eigene Spielfigur mit Waffen, Plasmiden und Tonika auszustatten, sind so umfangreich, dass man es kaum schafft, in einem einzigen Spieldurchlauf alles auszuprobieren. Der Haken an der Sache: Seine Gegner kreativ umzubringen, Fallen zu stellen und sich in Sicherheitssysteme zu hacken, dauert einfach länger als alles ganz simpel über den Haufen zu schießen. Trotzdem, es macht Spaß. In der Tat so viel Spaß, dass Bioshock der erste Shooter seit geraumer Zeit ist, den ich solo bis zum Ende durchgespielt habe. Gears of War, Resistance und Rainbow Six: Las Vegas habe ich nur im Koop-Modus und mit viel Alkohol halbwegs unbeschadet überstanden, Riddick und selbst Half-Life 2 musste ich vor Langeweile mittendrin abbrechen. Bevor jemand die Nase rümpft, schaue er sich die Gameplay-Statistiken zu HL2: Episode 1 auf Valves Homepage an und staune, dass selbst dieses Häppchen nicht mal von der Hälfte der Käufer durchgespielt wurde.
Architektonisch ist die Unterwasserstadt Rapture ausgesprochen gut geraten. Die Räumlichkeiten wirken oft beengt und verschachtelt, schließlich steht nicht endlos viel Platz zur Verfügung, wenn man jeden Quadratmeter Baugrund dem Meer abtrotzen muss. Häufig kann man durch Glasfenster in den Ozean hinausschauen, aber nicht so oft, dass es allzu unglaubwürdig wirken würde. Stein und Stahl halten das Wasser effektiver und sicherer ab als riesige Glasfronten. Vom Krankenhaus über den Hafen, Wohnblocks, Amüsierviertel, Parks bis hin zu Kraftwerken und Industriegebieten – vieles davon, was eine solche Stadt zum Leben bräuchte, bekommt man auf seiner Rundreise durch Rapture zu sehen.
Was mir manchmal fehlt, ist ein Blick auf das große Ganze. Lediglich zu Beginn des Spiels erleben wir die Tauchfahrt hinunter in die Stadt mit, alle weiteren Tauchfahrten werden mit einem simplen Ladebildschirm übersprungen. Dazu kommt, dass der Ausblick selbst durch die Panoramafenster oft nicht begeistern kann - zu groß ist der grafische Unterschied zwischen den bezaubernd schön gebauten Innenlevels und den simplen Polygonaufstellern draußen im Wasser.
So bizarr wie die Stadt sind ihre Bewohner. Auf das besondere Verhältnis von Big Daddy und Little Sister gehen wir später noch ein, bleiben wir erst einmal bei den Splicern. Die durch Genmanipulation verrückt gewordenen Einwohner der Stadt wissen immer wieder zu überraschen. Im Behandlungszimmer des Zahnarztes geht das Licht aus, man hört ein irres Kichern, doch als die Beleuchtung wieder anspringt, wirkt alles unverändert. Niemand zu sehen. Man durchsucht den Schrank des Arztes, findet nichts, dreht sich um und – schaut dem Doktor direkt ins Gesicht. Uff! An ihrer Kleidung erkennt man oft, wer die Splicer vor ihrem Wahnsinn gewesen sind, ihre abwegigen Gespräche hallen durch die Gänge. In Cohens Galerie sind einige der Statuen längst nicht so leblos, wie sie scheinen. Andernorts treffen wir auf ein Walzer tanzendes Pärchen. Vermutlich die einzigen Splicer in Rapture, die man nicht hätte töten müssen und bei denen man sich hinterher mies fühlt, weil man es trotzdem getan hat.
Erdacht und erbaut hat die nun langsam zu Grunde gehende Stadt der Ingenieur Andrew Ryan. Und nicht nur das: Wie sich im Laufe des Spiels herausstellt, ist er der leibliche Vater des von uns gespielten Jack. Seine Mutter, die Prostituierte Jasmine Jolene, verkaufte Jack schon als Embryo an die Wissenschaftlerin Dr. Tenenbaum, und über sie an Frank Fontaine, den Großindustriellen, Schmuggler und Gegenspieler Ryans. Andrew ermordete Jasmine dafür. Es geht doch nichts über ein intaktes Familienleben.
Von Jacks Herkunft erfahren wir erst spät im Spiel, sie erklärt einige Inkonsistenzen der Einleitung. Warum Jack sich gleich zu Beginn ohne Aufforderung freiwillig das Elektrobolt-Plasmid in die Blutbahn jagt, so als wüßte er, wozu das Zeug gut ist, wäre sonst ein Rätsel geblieben. Ein Rätsel wie die »Große Kette«, die auf seine Handgelenke tätowiert ist.
Andrew Ryans vermutliches Vorbild in der wirklichen Welt ist in Europa nur wenigen ein Begriff, bekannter aber in den Vereinigten Staaten: Die in Sankt Petersburg geborene und 1926 in die USA geflohene Schriftstellerin und Philosophin Ayn Rand. Ihr zweiter Roman, »The Fountainhead« wurde 1943 veröffentlicht, das über tausendseitige, als ihr Hauptwerk angesehene »Atlas Shrugged« 1957. Kommen die Namen jemandem bekannt vor?
Sie begründete den Objektivismus, der grob zusammengefasst besagt, dass alles, was existiert, unabhängig von unserem Bewußtsein existiert und dass unser Verstand unsere einzige Möglichkeit ist, Wissen über das zu sammeln, was existiert. Ethik leitet sich bei Rand aus der Fähigkeit des Menschen, rationale Entscheidungen zu treffen, und dem Drang zur Selbsterhaltung ab. Gut ist folglich, was deinem eigenen Leben nützt. Daraus folgt, dass das Recht jedes Menschen auf Leben, auf Freiheit und Eigentum nicht durch andere verletzt werden darf. Anders herum ist aber niemand moralisch verpflichtet, andere darin zu unterstützen, diese Rechte wahrzunehmen. Altruismus, also Selbstlosigkeit, Uneigennützigkeit, lehnen Objektivisten ab. Ebenso wie Andrew Ryan, der Altruismus in Bioshock als Geißel der Menschheit bezeichnet.
The word "We" is the word by which the depraved steal the virtue of the good, by which the weak steal the might of the strong, by which the fools steal the wisdom of the sages. …
I am done with the monster of "We," the word of serfdom, of plunder, of misery, falsehood and shame.
And now I see the face of god, and I raise this god over the earth, this god whom men have sought since men came into being, this god who will grant them joy and peace and pride.
This god, this one word: "I."
(Ayn Rand, »Anthem«)
For centuries, the battle of morality was fought between those who claimed that your life belongs to God and those who claimed that it belongs to your neighbors between those who preached that the good is self-sacrifice for the sake of ghosts in heaven and those who preached that the good is self-sacrifice for the sake of incompetents on earth. And no one came to say that your life belongs to you and that the good is to live it.
(Ayn Rand, »Atlas Shrugged«)
Ja, viele der zwingenden, der demagogischen Aussagen Ryans im Spiel klingen wie enharmonische Verwechslungen von Rand-Zitaten. Ist Bioshock also Objektivismus-Kritik? Nicht direkt, denn Ryan ist zu keinem Zeitpunkt wirklich Objektivist. Er beginnt, seine Vision zu verraten, kaum dass Rapture auf dem Meeresboden Gestalt annimmt. Weil er die Stadt vor der Welt geheim halten will, dürfen ihre Einwohner den Ort angeblich grenzenloser Freiheit nicht mehr verlassen – was ihre Freiheit bereits ganz erheblich einschränkt.
Rapture dient durchaus der Freiheit, aber ausschließlich der eines einzigen Mannes: Ryan selbst. Um das zu gewährleisten wird er, was seine Ideologien angeht, innerhalb der dreizehnjährigen Geschichte Raptures außergewöhnlich flexibel. Die »Große Kette«, die die vereinten Anstrengungen der Einwohner der Stadt symbolisieren soll, kann keinesfalls objektivistisch sein; sie hat ihren Ursprung viel eher im Kommunismus, der Ayn Rands Vorstellungen diametral entgegensteht (siehe obiges Zitat aus »Anthem«). Andere ziehen für das Volk oder für den Staat an der Kette, hier zieht man für Rapture. Nach der Übernahme von Fontaine Futuristics errichtet Ryan schließlich sogar eine Militärdiktatur. Völlig ohne Skrupel, die Menschen zu töten, die ihm entgegenstehen. Im Bestreben, seinen Traum von Rapture zu retten, korrumpiert er diesen Traum immer mehr.
Hier deutet sich ein Thema an: das Scheitern von Ideologien. Sie funktionieren widerspruchsfrei nur in einer idealen Welt, aber die Realität ist nicht ideal und Menschen sind nicht perfekt.
Ein Thema, aber beileibe nicht das einzige.
»No gods or kings. Only Man«, steht am Eingang des Leuchtturms geschrieben. Man beachte die Groß- und Kleinschreibung. Die Ablehnung von Religion ist in diesem Zusammenhang eindeutig eine objektivistische Idee.
Do you believe in God, Andrei? No. Neither do I. But that's a favorite question of mine. An upside-down question, you know. What do you mean? Well, if I asked people whether they believed in life, they'd never understand what I meant. It's a bad question. It can mean so much that it really means nothing. So I ask them if they believe in God. And if they say they do – then, I know they don't believe in life. Why? Because, you see, God – whatever anyone chooses to call God – is one's highest conception of the highest possible. And whoever places his highest conception above his own possibility thinks very little of himself and his life. It's a rare gift, you know, to feel reverence for your own life and to want the best, the greatest, the highest possible, here, now, for your very own.
(Ayn Rand, »We The Living«)
Religionen sind in Rapture verboten, Bibeln und Kruzifixe erkennbar Schmuggelware. Auch wenn in diesem Zusammenhang seltsam erscheint, dass Ryan mit griechischen und römischen Göttern keine Probleme hatte, denn knapp die Hälfte der Ortschaften in Rapture sind nach ihnen benannt. Apollo Square, Neptune's Bounty, Poseidon Plaza. Der gesamte Industriekomplex ist nach Hephaistos, dem Gott des Feuers und der Schmiede, benannt, die Unterkünfte für die Armen nach Hestia, der Göttin des Familienherdes.
Auch die Frage der Religion führt uns letztendlich zurück zur Freiheit. Denn dazu, frei zu sein, gehört an das glauben zu können, was man für richtig hält. Ryan ist das egal, denn die Bevölkerung Raptures dient ihm nur zur Erfüllung seines Traumes. »Ich weiß, dass meine Überzeugungen mich über die Masse stellen«, offenbart er uns kurz vor seinem Tod. Vergessen wir nicht die Schilder der Demonstration, über die wir gleich zu Spielbeginn stolpern: »We 're not your property!« und »Ryan doesn't own us!«
Tatsächlich ist es nicht Ryan, der uns besitzt. Es ist Fontaine. Was uns zum zentralen Wendepunkt des Spiels bringt, der uns diese Erkenntnis offenbart und der durch Ryans Funksprüche in Hephaistus hervorragend vorbereitet wird. Ryan, der sich von Beginn an weit stärker für Jacks Identität interessiert als dieser es selbst tut. Als wir Hephaistus erreichen, weiß Ryan bereits, wer Jack ist: »Ein Wunder ist es, eine Stadt auf dem Grund des Ozeans zu erbauen. Aber mit einem Flugzeug direkt über dieser Stadt abzustürzen, ist das nicht das viel größere Wunder?«
Er legt den Finger in die Wunde, zeigt auf die enorm großen Löcher in der Geschichte, die uns Bioshock bis dahin erzählt hat. Und dann … löst er die Unstimmigkeiten auf. Der letzte Flashback in Ryans Büro klärt endgültig, wie es zu dem Flugzeugabsturz kam: Das im Prolog gezeigte Paket enthielt einen Revolver, Koordinaten und das bekannte »Would you kindly…«
»Wärst du so freundlich, …« ist der Schlüssel zu Jacks Geist. Atlas hat Ryans Tod befohlen, mit der Äußerung »Wärst du so freundlich, endlich in Ryans Büro zu gehen und den Drecksack umzubringen?« Durch die Tonbandaufnahme mit Suchong, dem jungen Jack, dem Hund und dem Genickbruch hätte einem bereits klar werden können, was diese Äußerung bedeutet, noch bevor man Ryans Büro überhaupt betritt. Schließlich steht das »Would you kindly« auch übergroß an der Wand. Verstanden habe ich es trotzdem erst, als Ryan selbst es ausführlich erklärte, es Jack geradezu genüßlich unter die Nase rieb: »Der Freie hat die Wahl, der Sklave gehorcht!« Er befiehlt seinen Tod nicht selbst, seinem »Töte!« fehlt die benötigte freundliche Aufforderung. Aber er stellt sich selbst während seines Ablebens, selbst durch sein Ableben noch über dich, über Jack. Frei bis zum Ende.
Warum nun scheint dieser Moment der Erleuchtung so vielen Spielern so viel zu bedeuten? Vielleicht, weil er nicht nur die vorangegangenen Geschehnisse in einen anderen Kontext rückt, sondern auch die Wand zwischen Spielfigur und Spieler niederreißt und sich direkt an den Spieler wendet: Was du bisher getan hast, hast du nicht getan, weil es deine freie Entscheidung war. Du bist nur Befehlen gefolgt.
Ehrlich gesagt finde ich diese Erkenntnis banal. Sicher ist der Dreh sowohl storytechnisch gelungen als auch deshalb wunderbar, weil er sich die Eigenheiten der Spielmechanik zunutze macht. Er erklärt, warum Jack überhaupt gegen die Übermacht an Splicern überleben konnte und warum er stur allen Anweisungen Atlas' gefolgt ist.
Aber muss man sich als Spieler diesen Schuh anziehen? Sicher haben wir im Verlauf des Spieles Dinge getan, die zum Fortkommen notwendig waren, die wir moralisch aber kaum vertreten würden. Die uns von der Spielfigur distanzierten. Aber die Alternative wäre gewesen, das Spiel nicht zu spielen. Wir mussten Cohen bei seinem Meisterwerk helfen, sonst hätte er uns nie den Schlüssel gegeben. Ich war darüber so erbost, dass ich auch den Künstler selbst von seinen Leiden erlöste. Trotzdem hatte ich über weite Strecken des Spiels die Motivation, Atlas' Anweisungen zu folgen. Auch zu Beginn. Den »Finde meine Familie«-Aufhänger fand ich weder aufgesetzt noch langweilig, ich bin schlicht davon ausgegangen, dass der Mann einen Plan hat, wie er mit seiner Familie aus Rapture entkommen will. Die U-Boot-Szene gab mir insofern Recht, als Atlas tatsächlich diesen Eindruck erwecken wollte.
Was du getan hast, war nicht deine freie Entscheidung. Du bist nur Befehlen gefolgt. Natürlich. Wie in den meisten storygetriebenen Spielen. Sie geben sich Mühe dich zu motivieren, damit du tust, was sie von dir erwarten, aber im Grunde folgst du Befehlen. War das irgend jemandem bisher noch nicht klar? Hat diese Motivation bei dir bis jetzt immer ausgereicht oder warst du nicht auch früher, in anderen Spielen, schon an einem Punkt, an dem du eigentlich nicht tun wolltest, was von dir verlangt wird? Mir ging das zum Beispiel in Call of Juarez so. Über die erste Spielstunde bin ich dort nie hinausgekommen, denn ich wollte einfach nicht das tun, was für den schwerbewaffneten Priester vorgesehen war. Mir ging das in World of Warcraft: Burning Crusade so. Die Draenei sind die Sendboten des Lichts, zufällig der höchsten moralischen Instanz in Warcraft. Und trotzdem haben die Questautoren in den Draenei-Startgebieten die Sache so gedreht bekommen, dass die Hälfte der Quests damit endet, dass man aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen irgend etwas töten muss. Sicher, Dinge zu töten ist der hauptsächliche Spielinhalt von WoW, wie auch der jedes Egoshooters, aber es fühlte sich für mich in diesem Fall einfach nicht richtig an.
Für jemanden, der beim Spielen über das nachdenkt, was er tut, sollte die vermittelte Erkenntnis über Videospiele also eigentlich Alltagswissen sein. Es bleibt ein hervorragender Storytwist.
Schauen wir uns den Weg genauer an, den das ADAM in die Stadt nimmt. Tenenbaum trifft in Neptune's Bounty auf einen Seemann, dessen zuvor verkrüppelte Hand auf wundersame Weise geheilt wurde. Die Ursache dafür hofft sie in einer Seeschnecke zu finden, mit der der Mann in Berührung kam. Allerdings will ihr keines der angesehenen Labors der Stadt die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie bekommt das Geld schließlich dennoch, aber ausgerechnet von Frank Fontaine. Während ihrer Forschungen stößt sie auf die geheimnisvolle Substanz, die für die Genesung des Seemanns verantwortlich ist: Das sogenannte ADAM besteht aus Stammzellen, die sich je nach gewünschtem Zweck flexibel einsetzen lassen und dabei körpereigenes Gewebe ersetzen. Da die Schnecken aber nur verschwindend geringe Mengen des Stoffes produzieren, zerbricht sich Fontaine den Kopf darüber, wie man ADAM quasi-industriell herstellen könne.
Falls irgendwo im Spiel eine Tonbandaufnahme existiert, die erläutert, wer auf die Idee mit dem Parasitismus gekommen ist, dann habe ich sie übersehen. Jedenfalls scheinen die Schnecken im Zusammenspiel mit einem menschlichen Wirt ein Vielfaches an ADAM produzieren zu können, ganz besonders im Zusammenspiel mit möglichst jungen Wirten. Was auf diese Erkenntnis folgt, ist verbrecherisch. Der Wissenschaft mögen in Rapture keine moralischen Grenzen gesetzt gewesen sein, aber ein Kinderheim für »Little Sisters« zu errichten, um die kleinen Mädchen dann operativ mit ADAM produzierenden Parasiten zu bestücken, ist so widerwärtig und verachtenswert, dass ich keine passenden Worte dafür finde. Das ist das Werk von Frank Fontaine, der munter beginnt, Plasmide und Ähnliches an die Bewohner von Rapture zu verkaufen, obwohl Tenenbaum, wie eine weitere Aufnahme beweist, längst dahinter gekommen ist, dass die ADAM-Stammzellen instabil sind und, einmal in den Körper gebracht, regelmäßig ersetzt werden müssen.
Die daraus resultierende Sucht nach ADAM hält Fontaine sogar noch für verkaufsfördernd, ungeachtet der Gefahren. Und er behält Recht. Ryan betrachtet den wachsenden Bedarf an ADAM zwar mit Sorge, hält aber lange an seinem Glauben an die selbstreinigenden Kräfte des Marktes fest.
Eine weitere Sache, die mir entgangen ist: Gab es einen konkreten Auslöser für Ryans Entschluss, dann doch gegen Fontaine vorzugehen? Möglicherweise der blutige Zwischenfall im Restaurant, von dem wir durch das erste Audiotape Diane McLintocks erfahren? Wäre plausibel, weil Ryan zu dieser Zeit noch mit McLintock liiert war und weil die Szene im Restaurant stattgefunden haben muss, bevor Diane unglückliche Kundin von Dr. Steinman wurde. Das ist einer dieser Momente, in denen ich wünschte, die Audiotagebücher wären wenigstens datiert.
Fontaine jedenfalls täuscht seinen eigenen Tod vor, woraufhin seine Firma, zunächst nur treuhänderisch, an Andrew Ryan übergeht, bis Ryan Industries zu einem späteren Zeitpunkt Fontaine Futuristics komplett schluckt. Immer neue und mächtigere Tonika und Plasmide kommen auf den Markt – zunehmend auch solche, die sich als Waffen einsetzen lassen. Notwendig wird das durch Atlas, der wie aus dem Nichts auftaucht und besonders die Bevölkerungsschichten in den von Fontaine gebauten Armenvierteln gegen Ryan aufwiegelt.
Auch Ryan verharmlost die Nebenwirkungen der Plasmide. Wie wir in Arcadia erfahren, glauben die meisten splicenden Einwohner lange daran, dass die zeitweise entstehenden Kopfschmerzen und das Unwohlsein verschwinden würden, wenn man »einfach mal eine Pause macht«. Dabei sind sie nur die Vorboten von viel Schlimmerem.
Wegen der negativen Darstellung der Gentechnik im Spiel und speziell dem hergestellten Link zwischen Stammzellen und ADAM, wird in Bioshock gerne ganz pauschal Kritik an Stammzellenforschung gesehen. Ich denke nicht, dass das zutrifft. Wenn wir, wie oben geschehen, versuchen die Ereignisse einigermaßen chronologisch zu ordnen, dann fällt vor allem auf, dass die handelnden Personen zu kaum einem Zeitpunkt verantwortungsbewußt mit ihrer Entdeckung umgehen. ADAM wird schon eingesetzt, bevor man überhaupt ansatzweise verstanden hatte, was das Zeug bewirkt. Und selbst die bekannten Risiken werden dem Großteil der Bevölkerung verschwiegen.
Das alles rächt sich, hat aber nicht spezifisch etwas mit Stammzellenforschung zu tun. Sehr viel zu tun hat es dafür mit der mangelnden Bereitschaft der Einwohner Raptures, kritisch zu hinterfragen, was sie da eigentlich mit sich anstellen. Sie spielen sorglos mit ihrem genetischen Code wie ein Dreijähriger, der in Papas Schrank eine geladene Pistole findet.
Bioshock dreht sich ganz grundsätzlich um die Notwendigkeit, über Dinge nachzudenken und sie zu hinterfragen, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Hier laufen eine Menge roter Fäden zusammen: Die letztendlich gescheiterten Ideologien und Visionen eines Andrew Ryan, die Möglichkeiten und Gefahren genetischer Manipulationen und schließlich die Leichtfertigkeit, mit der den Versprechungen eines Atlas auf den Leim gegangen wird. Skepsis ist nicht die Sache der Einwohner von Rapture, zumindest ist sie es viel zu selten und zu spät. In diese Reihe fügt sich der Storytwist auf geradezu wundersame Weise ein, wird dem Spieler doch ein ähnliches Versagen vorgeworfen, wie man es den Bewohnern der Unterwasserstadt vorwerfen kann: zu folgen, ohne nachzudenken. Das Spiel selbst unterstreicht in seiner gesamten Konzeption diesen Ansatz: Ohne sich Gedanken zu machen, zu hinterfragen, Puzzleteile hin und her zu schieben wird man kaum dahinter kommen, was einem Bioshock eigentlich sagen will.
Wie wunderbar sich plötzlich alles zusammenfügt. Und dennoch: Wäre das alles, hätte das Spiel nach Ryans Tod vorbei sein können. War es nicht, also kommt noch mehr.
Nachdem Ryan Fontaine Futuristics übernommen hat, geht die Stadt erst richtig vor die Hunde. Fontaine taucht unter dem Namen Atlas wieder auf und stürzt die Stadt in einen Bürgerkrieg. Es fällt ihm leicht, gerade die Ärmeren auf seine Seite zu ziehen. Wie er selbst sagt: »Man muss keine Stadt bauen, damit die Leute einen anbeten. Es reicht schon, die Dummköpfe glauben zu lassen, sie wären etwas wert.« Der Blick hinunter auf die Massen, auf das Gewürm unter ihm, ist der gleiche, der inzwischen auch Andrew Ryan zu Eigen ist. Beide streben nach Macht: Ryan um seine Freiheit zu schützen, Fontaine um seine Investitionen zu schützen.
Der Rohstoff ADAM wird dabei immer knapper, so dass Ryan und Suchong auf eine Idee verfallen, gegen die Fontaines Kinderheim für »Little Sisters« geradezu wie eine humanitäre Einrichtung wirkt. Mit ähnlichen Mitteln zur Gedankenkontrolle wie denen, unter denen auch Jack zu leiden hat, werden die kleinen Mädchen dazu abgerichtet, ADAM zurückzugewinnen. Aus Toten. Die brauchen es schließlich nicht mehr. Da man die Mädchen mit all dem ADAM an Bord nicht mehr schutzlos durch die Stadt ziehen lassen kann, wird Dr. Suchong mit der Erschaffung einer Kreatur beauftragt, die für die Sicherheit der Kinder sorgen soll. Ironischerweise wird der Doktor direkt von seinem ersten ordnungsgemäß funktionierendem »Big Daddy« umgebracht.
Und nun wird es Zeit, sich zu fragen, warum Bioshock der Beziehung zwischen Big Daddies und Little Sisters so viel Platz einräumt. Fast alles, was uns das Spiel nach Ryans Tod überhaupt noch erzählt, hat mit diesem ungleichen Paar zu tun. So erfährt man unter anderem, dass, obwohl Suchong die Umwandlung eines Menschen zum Big Daddy für kaum umkehrbar hält, Ryan trotzdem keine Zweifel hat, dass es genug Freiwillige für diese Aufgabe geben würde.
Oft genug wurde festgestellt, dass man als Spieler in Bioshock kaum Einfluss auf die Handlung nehmen kann, dass man die Geschichte des Spiels, abgekoppelt vom eigenen Handeln, vorgesetzt bekommt wie in einem Roman oder Spielfilm. Was aber wäre, wenn die wichtigste Aussage des Spiels just in jenen einsamen Momenten läge, in denen Bioshock dem Spieler das Treffen einer eigenen Entscheidung durchaus ermöglicht? Die Augenblicke, in denen man zwischen Leben und Tod der Little Sisters entscheidet. Was wäre dann das Thema des Spiels?
Kann eine menschliche Gesellschaft ohne Nächstenliebe, ohne Mitleid, ohne Willen und Fähigkeit der einzelnen Menschen, sich ab und an zurückzunehmen und uneigennützig zu handeln, überhaupt funktionieren? Rapture kann es nicht. Nächstenliebe und Mitleid sind Andrew Ryan, Frank Fontaine und Dr. Suchong vollkommen fremd, selbst Tenenbaum empfindet es erst spät für die von ihr selbst erschaffenen Kreaturen. Dennoch sind Ryan und Suchong gezwungen, auf äußerst unnatürliche Weise diese natürlichen Regungen nachzubilden. Die von ihnen konstruierten Big Daddies sind mit Abstand die altruistischsten Gestalten im gesamten Spiel.
Nicht umsonst steckt uns Bioshock kurz vor Schluss in die Haut eines Big Daddies. Nicht umsonst wertet es die zuerst als Auswahl zwischen zwei gleichberechtigten Alternativen erscheinende Entscheidung im späteren Spielverlauf derart stark. Tenenbaum bittet uns, die kleinen Mädchen zu verschonen, während Atlas erklärt, ihr Tod wäre notwendig, um an genug ADAM zum Überleben zu kommen. Wie versucht Atlas uns zu überzeugen? Indem er uns erklärt, in den Little Sisters wäre von den kleinen Mädchen, die sie einst waren, nichts mehr übrig. Wenn laut Schopenhauer Ethik und Moral auf dem Erkennen des Eigenen im Anderen basieren, dann versucht Atlas hier, genau dieses Erkennen zu unterbinden.
Er behält Unrecht. Das ist der entscheidende Punkt. Und so ist für mich der schönste und beste Moment im Spiel absolut das Ende, nicht der Storytwist mit Ryan. So viel Aufmerksamkeit hat der alte Drecksack nicht verdient.
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