Guten Freunden gibt man ein Küsschen. Oder den Code für einen 10-Tage-Testaccount, den man in seiner Packung von Vanguard gefunden hat. Dank eines aufmerksamen Freundes erkundet ein kleiner Mönch nun seit Mitte der vorletzten Woche das asiatisch angehauchte Kojan, lernt Schneidern und übt sich in der Diplomatie. Zwar habe ich nach etwa dreißig Spielstunden bisher nur einen verschwindend geringen Teil des Spieles gesehen, aber diesen Teil finde ich, und darüber war ich selbst erstaunt, gar nicht schlecht. Jedenfalls kann ich nicht behaupten, dass mir das Küsschen lieber gewesen wäre.
Dabei meinte es das Schicksal nicht gut mit Vanguard. Die Visionen eines Brad McQuaid hätten bei anderen Entwicklern für drei oder mehr Spiele gereicht, weshalb das mit großer Verspätung erschienene Endprodukt mit »überambitioniert« noch ausgesprochen positiv umschrieben ist. Das von Sigil zuerst unter dem Publisher Microsoft entwickelte Spiel wurde nach dem Reißen der letzten Deadline im Sommer 2006 an Sony Online Entertainment weitergereicht, unter der Maßgabe eines Releases im Januar 2007. Zu diesem Zeipunkt wurde es auch tatsächlich veröffentlicht, obwohl nach Aussage der Entwickler noch unfertig. Und obwohl der Termin aufgrund des verschobenen Erscheinungstermins von WoW: Burning Crusade schlecht gewählt war.
Inzwischen gibt es Gerüchte über eine bevorstehende Übernahme von Sigil durch SOE. Schon bestätigt ist ein angestrebter »Relaunch« des generalüberholten Vanguard gegen Ende des Jahres. Verständlich, denn von der technischen Seite her scheint das Spiel noch mitten in der Betaphase zu stecken. Als Basis dient die Unreal-Engine 2.5, deren Nachteile in Form eines etwas betagt wirkenden Erscheinungsbildes Vanguard voll mitnimmt, ohne auf der anderen Seite von den Vorteilen zu profitieren: Von der Stabilität, der Unerschütterlichkeit einer über die Jahre in unzähligen Spielen zum Einsatz gekommenen Engine merkt man rein gar nichts. Im Zusammenspiel mit aktuellen nVidia-Karten kommt es häufig zu Darstellungsfehlern, plötzlichen Abstürzen des Spiels bis hin zu Bluescreens. Auf meinem Rechner lief Vanguard bisher keine neunzig Minuten ohne Absturz durch. Und selbst wenn es laufen sollte, bleibt es ein träges, auch neuere Hardware zum Frühstück verspeisendes Monster.
Doch ignorieren wir das für einen Moment. Stellen wir uns vor, in einer idealen Welt hätten wir nicht mit Performanceproblemen und Bugs im Spiel zu kämpfen. Man könnte nicht an zahlreichen Ecken in der Spielwelt hängenbleiben und müsste sich nicht von einem Support-Mitarbeiter befreien lassen. Wenn man auf einem Stein oder einer Baumwurzel stehend ausloggt, würde man nach dem nächsten Einloggen nicht im Stein oder der Wurzel stecken. Es könnte nicht passieren, dass man nach einem Absturz ins Spiel zurückkommt und plötzlich der halbe Inhalt des Inventars fehlt – wenngleich die Dinge in meinem Fall mysteriöserweise einen halben Tag später wieder auftauchten. Man würde nicht schon in den ersten zehn Leveln über Quests stoßen, die sich nicht abschließen lassen.
Dann würde einem stärker auffallen, dass Vanguard auf der anderen Seite zahlreiche Dinge richtig macht, die die komplette Riege der übrigen aktuellen Fantasy-MMORPGs mehr oder weniger versaut.
Das geht mit dem gekonnten Einstieg los. Als Halbelf in Kojan messe ich mich zu Spielbeginn nicht etwa mit Wölfen, Ratten oder Eichhörnchen: Ich marschiere im Namen des Imperiums mit einer Invasionsarmee in ein Dorf ein! Der General in meinem Rücken fordert, die Truppen zu motivieren, wehrlose Dorfbewohner zu ermorden. Er fordert, Unschuldige umzubringen, den Dorfobersten zu töten. In tiefschwarzer Rüstung schreite ich durch das Dorf und vollstrecke. Beängstigend. Ich saß vor dem PC, dachte »Scheiße, was soll das?« und war nahe daran, das Spiel zu beenden.
Als ich dem Dorfoberhaupt gegenüber stehe, spricht der von meiner Befreiung. Ich verliere die Besinnung und wache wenig später in einem friedlichen Fischerdorf wieder auf. Ohne Schwert und Rüstung, und auch an Können um einiges ärmer. Fortan darf ich mich doch wieder mit den typischen MMORPG-Startaufgaben herumschlagen: Krebse fangen und Mücken töten. Aber das Spiel bindet mich bis dahin viel stärker an meine Spielfigur und das Szenario, als es die kurzen Einführungsfilmchen oder gar Texttafeln der Konkurrenz könnten – Lord of the Rings Online einmal ausgenommen.
Ich lerne mehr über die »Jin« genannte Elementarkraft, der Mönche einen Großteil ihrer Fähigkeiten verdanken. Langsam arbeite ich mich zur Stadt Tanvu vor, die mich mit ihrer fernöstlichen Architektur begeistert. Die Berge, das Kloster am Hang, der nahegelegene Bambuswald, das alles ist malerisch angelegt. Tanvu gehört zwar zum Imperium, aber von den Kriegen des Emperors scheint hier niemand etwas zu wissen. Stattdessen hat die Stadt ihre ganz eigenen Probleme, scheint selbst Opfer einer Invasion: Die Ulvari haben zahlreiche Lager in der Umgebung und führen gegen den Magistrat der Stadt einen geheimen Krieg, einen perfiden Kampf um die Köpfe der Zivilbevölkerung.
Dieser »dream war« ist tatsächlich eine clevere und unverbrauchte Idee. Im Auftrag der Stadt löse ich mysteriöse Mordfälle und ziehe Erkundigungen ein. Mittels des Diplomatiesystems übrigens großteils in Gesprächen, ohne einen einzigen Gegner zu verprügeln. Leider lässt man Tanvu etwa mit Level 12 wieder hinter sich und zieht nach Osten, um sich dort mit Orks anzulegen. Erst die dunkle Vorgeschichte meiner Spielfigur, dann der »dream war«, nun Orks: Mag ja sein, dass das zu einem späteren Zeitpunkt alles Sinn ergibt, aber bisher ergeben die einzelnen Quests des Spiels für mich nicht unbedingt ein stimmiges Gesamtbild. Vieles wird angerissen und dann einfach stehen gelassen, um zur nächsten Idee überzugehen.
Waren die typischen »Töte-zwanzig-Monster«-Quests zu Spielbeginn noch hübsch verpackt, lässt auch das langsam nach. Im Fischerdorf damals störten die summenden Insekten die Meditation eines Mönches, also zog ich aus, um Kleinvieh zu beseitigen, bis Ruhe einkehrte. Oder mein Lehrer trug mir auf, mehr über den Kampfstil der Ulvari in Erfahrung zu bringen, also prügelte ich mich mit ihnen, bis ich genügend Informationen hatte. Inzwischen sammle ich Ork-Medaillions bis zum Umfallen.
Es scheint der Fluch von Vanguard zu sein, dass jede außerordentlich gute Idee irgendeinen Haken haben muss. Auf jeden schönen Einfall folgt eine Enttäuschung. Nehmen wir beispielsweise das Kampfsystem: Mit viel Aufwand und Liebe zum Detail wurde versucht, die Kämpfe so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Seien wir ehrlich: Während World of Warcraft erst im Gruppen- oder Raidgeschehen an Komplexität gewinnt, laufen die Kämpfe, in denen sich ein einzelner Spieler mit einem einzigen Gegner herumschlägt, nach festgeschriebenen Schemata ab. Man spult seine Fähigkeiten in einer bestimmten Reihenfolge herunter, mit der man in neunzig Prozent der Fälle Erfolg hat. In Vanguard ist das anders.
Nehmen wir als Beispiel meinen Mönchen auf Level 10. In einen Kampf startet er mit 100 Prozent Ausdauer, aber ohne Jin. Einige Eröffnungs-Fähigkeiten wie Faustschläge oder Fußtritte kosten Ausdauer, liefern aber dafür Jin. Mit Jin kann er sich selbst mit »Eiserne Faust« buffen, um die nächsten fünf Minuten kräftiger zuzuschlagen, er kann aber auch Spezialfähigkeiten auslösen, die entweder einfach stärker sind oder aber statt normalem physischen Schaden beispielsweise Feuerschaden bewirken. Ob eine Fähigkeit nun Ausdauer oder Jin verbraucht: Sie kann eine Angriffskette auslösen. So kann man nach einem einfachen Fußtritt beispielsweise manchmal noch etwas kräftiger nachtreten. Daneben gibt es Reaktionsfähigkeiten, die man nur nach bestimmten Angriffen des Gegners auslösen kann. Um zum Beispiel nach einem erfolgreichen Abblocken den abgeblockten Schaden zurückzulenken.
Schon dadurch muss man sich teilweise schnell zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden. Dazu kommt, dass manche Fähigkeiten vom Ablauf her besser aneinander passen als andere: Während man nach dem Auslösen einer Fähigkeit in der Regel eine Sekunde warten muss, bis man fortfahren kann – der sogenannte »global cooldown« – kann man einen »Flying Kick« beispielsweise direkt an einen »Crescent Kick« anhängen. Dazu kommen noch Möglichkeiten, dem Gegner sicherer auszuweichen, mit mehreren Gegnern gleichzeitig fertig zu werden und kurzfristig den insgesamt ausgeteilten Schaden der eigenen Gruppe zu erhöhen. Habe ich schon den Self-Heal erwähnt? Jawohl, selbst heilen kann man sich auch noch.
Und nun vergleicht das mal mit dem Repertoire einer beliebigen anderen Spielfigur eines Fantasy-MMORPGs eurer Wahl nach zwölf Stunden Spielzeit!
Zu den Schattenseiten: Wenn man stirbt, bleibt ein erheblicher Teil der Ausrüstung am Ort des Ablebens liegen. Man selbst steht am nächstgelegenen Altar, nur noch mit den Sachen am Leib, die man zuvor mit der eigenen »Seele« »verbunden« hat. Selbst wenn man vor dem Sterben alle Quests in Festung X erledigt hatte, muss man sich den ganzen Weg bis zu seinem Grabstein noch einmal durchboxen, um seinen Kram und einen erheblichen Teil seiner Erfahrungspunkte zurückzubekommen. Obwohl der Weg durchaus gefährlich sein könnte, schließlich ist man das letzte Mal ja daran gestorben.
Es gibt Momente, wo das die Spannung erhöht. Wo das Spaß macht. In neun von zehn Fällen ist das allerdings nicht der Fall. Richtig eklig wird es, wenn der Grabstein an einer Stelle liegt, die man nur mit Gruppe erreichen kann. Später beim Raiden wird das sicher toll: Sich stundenlang bis zum letzten Boss durchkämpfen, dort geschlossen sterben und dann am Eingang des Dungeons im Respawn stehen.
Und nichts von wegen »Respawn kommt nicht mehr, weil Boss X schon gelegt wurde«. Wir sind hier nicht in World of Warcraft. In Vanguard gibt es keine Instanzen. Also stehen im schlimmsten Fall nicht nur das ganze Kleinvieh, sondern auch alle schon gelegten Bosse wieder. Oder noch lustiger: Man kämpft sich über mehrere Stunden bis zum Endboss eines Dungeons durch, nur um festzustellen, dass dort eine weitere Raidgruppe den Boss soeben getötet hat. Man stelle sich das in WoW vor: Schlange stehen vor Ragnaros.
Auf Level 10 tangiert einen das alles natürlich noch nicht. Aber am Horizont ist es absehbar. Warum man in ein aktuelles MMORPG derart viele Dinge einbaut, die Onlinerollenspiele der vorletzten Generation halt hatten und an die sich viele Fans nostalgisch verklärt zurückerinnern, die inzwischen aber überholt sind, will mir einfach nicht in den Kopf. »Gänzlich anderes Zielpublikum als die WoW-Fraktion«, mag man entgegenhalten. Bis man in den verschiedensten Vanguard-Foren auf die Gruppe der Ex-EverQuest-Spieler trifft, die sich von Vanguard ein EQ3 erhofft hatten und all die oben genannten Dinge in den Vorankündigungen hervorragend fanden – nur um nach wenigen Wochen Vanguard erfreut zu berichten, mit Lord of the Rings Online glücklicher zu sein.
Viel gäbe es noch zu sagen. Über die Diplomatie. Über das Sammeln von Rohstoffen, das Herstellen von Rüstungen, Waffen, Häusern und Schiffen. Über die große Landmasse, über Reittiere, über die endlosen Wegstrecken. Im Laufe der kommenden Woche erledigen wir das. Zuerst einmal: Ich habe noch einen Trial-Key übrig. Hat jemand von unseren Stammlesern Interesse?
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