Sie steht nur mit weißer Unterwäsche bekleidet in ihrem Appartement vor mir. Hinter den großen Fenstern erfriert gerade Manhattan, irgendwo 20 Stockwerke unter uns. Mauern aus Eis um ihre Single-Wohnung und ihr Single-Herz, denke ich, alles pflegeleicht single-kugelsicher. Ihr Gang – die Bewegung ihrer Hüften – haut mich um. Aus ihrem CD-Spieler klingt »Sandpaper Kisses« von Martina Topley-Bird, und das haut mich auch um. Ach Carla – denn das ist ihr Name, Carla Valenti – ach Carla, ich hätte gerne mehr über dich erfahren, doch ich muss die Menschheit retten. Wieder einmal. Diesmal mit Sensospielchen.
Woanders in New York. Die Wohnung von Lucas Kane ist genauso trostlos wie sein Bewohner: kahl, leer, ein einsamer Sandsack, ein paar Umzugskartons in den Ecken. Verwirrt und verzweifelt wacht er eines Morgens im blutverschmierten Bett auf, denn Lucas Kane hat einen Mord begangen und sich dabei seine Unterarme aufgeritzt. Warum, weiß er nicht. Außerdem hat er sich kürzlich von seiner Freundin getrennt (oder sie von ihm), und als sie ihre restlichen Sachen bei ihm abholt, blickt man ganz kurz in seine glücklicheren Zeiten.
Woanders in New York. In Tylers Heim würde sich Quentin Tarantino wohlfühlen. Überzeichnete Klischees schlurfender Ghetto-Moves, greller Seventies-Poster, oranger Kugelsessel und Motown-Schallplatten. Whatever you do, do it cool. Doch so kühl ist Tyler nicht, dass ihm die Dame in seinem Bett (die in einer Verfilmung von Uma Thurman oder Juliette Lewis gespielt werden müsste) gleichgültig wäre. Samantha und er sind seit zwei Jahren zusammen und eigentlich glücklich. Eigentlich, weil ihr Privatleben viel zu kurz kommt, denn Tyler ist ein Cop und jagt zusammen mit Carla Valenti einen mysteriösen Mörder: Lucas Kane.
Über allen drei liegt die gedrückte Stimmung eines ungewöhnlich kalten New Yorker Winters, so wie über der Grafik von Fahrenheit ein Störungsfilter liegt – grobkörnig, verwaschen, gritty. Hätte sich David Cage in Fahrenheit ausschließlich auf seine Charaktere und deren Privatleben konzentriert, was für ein großartiges Werk wäre es! Die Wohnungen als Spiegel der Seele ihrer Bewohner. Die Zerbrechlichkeit der Protagonisten, ihre Einsamkeit selbst in zweisamen Siutationen. Die kleinen Dinge wie private E-Mails, Tylers Plattenspieler, Carlas angebrochene Pizza oder Lucas’ Gitarre. Alles lässt mich nach dem Abspann süchtig nach mehr verlangend zurück. Oder nein: ließe. Konjunktiv. So großartig Fahrenheit die Wege der drei Akteure miteinander verknüpft, ihr Innenleben fühlbar werden lässt, so elegant es die Perspektiven von Jägern und Gejagtem wechselt, so sehr hat es mich gleichzeitig genervt, geärgert und für völlig bescheuert erklärt – wie kein anderes Spiel der letzten Jahre.
Der bizarre Mord zu Beginn, gegen den Lucas und ich uns nicht wehren können, verspricht soviel. Einen Psychokrieg zwischen dem Spiel, seinen Protagonisten und mir. Oh, ich möchte dieses Spiel lieben. Doch dann wache ich in einem ganz anderen Psychokrieg auf. Sein Name lautet nicht Mystery Thriller, sondern Sensotastendrücken.
Fahrenheit zwingt den Spieler oft zu schnellen Reaktionen: während der Dialoge mit anderen Personen (schlicht, intuitiv, gut) und während diverser Actionsequenzen. Blau gelb rot grün rot blau rot grün meisterhaft choreografierte Kämpfe gelb rot grün grün Motion Blur Zeitlupe Effekte zum Verlieben gelb gelb rot blau gelb fantastisch komponierte Musik rüttel rüttel. Wie man sieht, sieht man nichts. Denn blinkende Farbkränze legen sich über die Szenerie, reißen mich erstens aus New York heraus, bereiten mir zweitens als stolzer Besitzer einer Links-Rechts-Schwäche einige Probleme und lassen mich drittens die parallel laufende Handlung im Hintergrund verpassen. Minutenlang! Als würde Francis Ford Coppola während einer Kinovorführung seines Apocalype Now im Clownskostüm vor der Leinwand herumhopsen, den Zuschauern mit diesen schrecklichen Leuchtarmbändern bewaffnet die Sicht nehmen und laut in die Menge brüllen: »Gebt mir ein gelb! Gebt mir ein doppelblau! Jetzt klatscht! N00bs! Marlon Brando kriegt ihr so nie zu sehen!«
Die zweite Variante der Actionsteuerung besteht darin, den Joystick das Pad oder die Tastatur so schnell wie möglich zu schänden. Winter Games in New York, der Temperatur angemessen. Am angeblich interaktiven Ablauf ändert sich nichts. Entweder schafft man eine Sequenz bis zum Ende oder eben nicht. (Viele Grüße von Dragon’s Lair und Space Ace aus den frühen Achtzigern. Been there, done that.) Viele dieser Sequenzen kann man übrigens – vielleicht wegen des schlechten Gewissens der Entwickler? – später als Bonus in Ruhe betrachten. Ganz selten funktioniert der Versuch sogar, den Spieler die Spielwelt physisch miterleben zu lassen: wenn man den Atem der klaustrophobischen Carla in engen Gängen beruhigen muss, zum Beispiel.
Auch die von David Cage im Vorwort des Handbuchs angekündigte interaktive Geschichte ist so interaktiv nicht. Fast keine Handlung der beteiligten Personen hat größeren Einfluss auf den weiteren Spielverlauf. Natürlich ändern sich die Bilder von Lucas, Carla, Tyler und den anderen im Kopf des Spielers, doch das ist nicht der Verdienst des Spiels, sondern der menschlichen Einbildungskraft.
Am Ende von etwa neun Stunden Spielzeit stehen bloß drei verschiedene Epiloge – statisch, unveränderlich. Drei Epiloge einer anfangs wahnwitzig spannenden, später immer abstruser und unglaubwürdiger werdenen Geschichte um weltbeherrschende Geheimbünde, Esoteriktanten, geheime Militärlabors, auserwählte Kinder, lebende Tote, blutrünstige Maya-Rituale und (!) bösartige künstliche Intelligenzen, die schließlich in der bedingungslosen Versklavung der Menschheit endet – oder mit der Antwort auf alle, absolut alle Fragen des menschlichen Seins. So zielstrebig trudelt die Erzählung in den Abgrund, dass gegen Ende sogar die Glaubwürdigkeit der Charaktere mit völlig unmotiviertem Sex aufs Spiel gesetzt wird, der wie eine Parodie vorheriger erotischer Szenen wirkt.
Nein. Eine derartige Beleidigung des schöngeistigen Intellekts habe vielleicht ich verdient, nicht aber Fahrenheits Figuren. Wie kann man seinen eigenen Geschöpfen nur so in die Herzarterien stechen, Herr Cage?
Dabei ist die Oberfläche von Fahrenheit so schön, so schön. Nostalgisch flackernde und mit Kratzern übersähte Kinoästethik während der leider fast unspielbaren Rückblenden in Lucas’ Kindheit (schleichen, erwischt werden, von vorne anfangen), kunstvoll zusammengesetzte Splitscreens (wie schon im Woodstock-Film von 1969, Neugeborene nehmen gerne die TV-Serie 24 als Referenz), sehr gute englische Sprecher (einfach die verbrecherisch schlechten deutschen Sprecher ignorieren), Oscar-würdige Kompositionen von Angelo Badalamenti und die eines Tarantinofilms würdige Auswahl der einzelnen Songs.
»Am Ende fühlt man sich wie ein blutig geprügelter Hund«, schreibt jetsetradio. Kalt wird Fahrenheit niemand lassen, ob aus Wut oder aus Liebe. Und das ist sehr wichtig in Zeiten gähnend langweiligen Mittelmaßes. Aber ich hätte gerne eine Fassung ohne Schnickschnack, die sich völlig auf die Charaktere konzentriert und auf das peinliche Story-Patchwork verzichtet. Von mir aus gerne zum doppelten Preis. Denn den wäre Fahrenheit dann wert.
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