Roberta Heuer heiratet mit 19, wird Roberta Williams, Hausfrau und Mutter, bekommt 1979 ihren zweiten Sohn und spielt im selben Jahr ihr erstes Computerspiel. Zwischen Stillen, Windeln wechseln und Kindererziehung erfindet sie nebenbei das Grafikadventure, gründet mit Sierra eine der wichtigsten Spielefirmen aller Zeiten, schreibt eine der erfolgreichsten Spieleserien aller Zeiten, steigt zum erfolgreichsten Adventureautor (ob männlich oder weiblich) und zur bekanntesten Frau aller Zeiten in der Spielebranche auf. Das ständige »aller Zeiten« bitte ich zu entschuldigen, aber was soll ich machen? Mit ihrer Biografie schlägt man gleichzeitig das Geschichtsbuch der Computerspiele selbst auf.
Ihre Spielebiografie fängt direkt legendenfähig an: Ehemann Ken Williams arbeitet 1979 zuhause per Terminal an einem 3000 km entfernten wohnzimmergroßen Rechner. Das Terminal besteht aus Tastatur, Modem mit 110 BPS, Drucker und keinem Monitor. (Ja Kids, so war das damals!) Er entdeckt eine Datei namens ADVENT, startet die und schaut erstaunt auf den Drucker, der rattert: »YOU ARE STANDING AT THE END OF A ROAD BEFORE A SMALL BRICK BUILDING.« Das erste (Text)adventure der Welt, Colossal Cave Adventure oder kurz Adventure. Sekunden später hocken er und die herbeigerufene Roberta fasziniert vor den Bergen ausgedruckter Beschreibungen, vor dieser spröden, aber interaktiven Welt, mitten drin in den damals unglaublichen Höhlen von Adventure.
I just couldn’t stop. It was compulsive. I started playing it and kept playing it. I had a baby at the time, Chris was eight months old; I totally ignored him. I didn’t want to be bothered. I didn’t want to stop and make dinner.
(Roberta Williams im Buch Hackers von Steven Levy)
Einen Apple II und die Spiele von Scott Adams später will Roberta Williams selbst Adventures schreiben. Und zwar mit Grafik. Das erzählt sie ihrem Mann (in einem Steakhaus namens Plank House), zeichnet Karten, erfindet Puzzles, eine Story und malt über 60 Strichzeichnungen. Dass es zu dieser Zeit kein einziges Grafikprogramm gibt, dass so viele Bilder weder ins RAM noch auf eine Diskette passen, dass überhaupt kein Markt für derartige Software vorhanden ist – who cares? Roberta und Ken Williams schaffen das Unmögliche und veröffentlichen 1980 das erste grafische Adventure der Welt: Mystery House. Ein mit Verlaub wirklich ödes Spiel (ja, ich habe es komplett durchgespielt), dem ich Adventure jederzeit vorziehen würde. Doch die Vision zählt.
The irony of it was that, even as Ken planned to write a FORTRAN for the Apple, this more significant revolution in computing was happening right there in his own house.
(Steven Levy, Hackers)
Die Vision wird erstaunlicherweise von den Spielern erkannt: Ehepaar Williams kann sich vor Bestellungen kaum retten, Roberta muss tagsüber Disketten kopieren, hilft telefonisch verweifelten Spielern, verdient plötzlich 30.000 Dollar im Monat und entwickelt nachts ihr nächstes Spiel: Wizard and the Princess. Ergebnis: 160 Farbilder und über 60.000 verkaufte Exemplare. Schnell gründen beide 1980 On-Line Systems, verlegen ihr Büro ins wunderschöne Oakhurst am Yosemite-Nationalpark und der Sierra Nevada, ändern den Namen 1982 in Sierra On-Line, stellen im selben Jahr ihren 70. Angestellten ein und fahren einen roten Porsche. American Überdream.
Frau Williams lässt sich auch jetzt nicht von angeblichen Grenzen abhalten und präsentiert 1982 das umfangreichste Spiel seiner Zeit: Time Zone. Eine ausschweifende Zeitreise in 39 Szenarios (neudeutsch »Level«) mit über 1500 Szenen auf sechs doppelseitigen Disketten, also dem zwölffachen Umfang von Mystery House. Von US-moralischen Grenzen lässt sie sich genauso wenig beeindrucken. Für das von Sierra vermarktete Textadventure Softporn lässt sie sich oben ohne im eigenen Whirlpool fotografieren. (Sierra-Autor Al Lowe macht aus Softporn später übrigens Leisure Suit Larry, aber das nur am Rande.) Doch die wichtigste Grenze überschreitet sie 1984.
IBM. Der größte Computerhersteller der Welt, der den Siegeszug der Spielemaschinen im Kinderzimmer verpennt hat, will seinen uncoolen Intel-PC zum Spielegerät PCjr (Farbgrafik, Dreikanal-Sound) aufmotzen und sucht dafür die Killer-Applikation. Ein völlig neues Spielgefühl schön mit Story, bunten Bildchen und Musik bitte. Sowohl im Schaufenster als auch im Wohnzimmer auffallen, wenn’s geht. Da Frau Williams schon den ein oder anderen Bestseller auf dem Apple II gelandet habe, wolle man mit Sierra verhandeln. Top secret natürlich, denn ein geplatzter Deal stünde den Nadelstreifen von IBM nicht gut. Und Roberta Williams liefert.
Eine kinderkompatible Geschichte, gebastelt aus europäischen Märchen, eine sechzehnfarbige Spielwelt in Pseudo-3D, begehbar mit einem animierten Pixelkerl namens Graham und ein dreistimmiges Greensleeves als Titelmelodie (zumindest auf dem PCjr, auf einem normalen PC piepst der PC-Piepser bis heute bloß die erste Stimme). Dieser Klingklang geht zu Lasten des Textparsers, der dumm wie Brot nicht viele der in Textadventures üblichen Kommandos versteht. Macht aber nichts. King’s Quest bricht alle damaligen Verkaufsrekorde und zeigt der breiten Masse endlich, dass Computerspiele weitab von nerdigen Simulationen, komplizierten Hardcore-RPGs, lauten Arcade-Ballereien oder verkopften Textadventures auch bloß ein netter harmloser Zeitvertreib sein können, der Kinder nicht zu Psychopathen macht. Eine Killer-App für den PCjr ist King’s Quest allerdings nicht, denn der floppt. Wohl aber für das Spielen auf IBM-PCs und für ein neues Spielgefühl.
Die neue Gattung Grafikadventure boomt wie irre. Sierra entwickelt mit Ken Williams’ AGI-System Serien wie Space Quest, Police Quest, Leisure Suit Larry oder Quest for Glory. Ernsthaft gegenhalten kann nur Lucasfilm (später LucasArts), wo Aric Wilmunder und Ron Gilbert gerade eine Steuerung per Point’n’Click erfinden. Roberta Williams verlässt sich vorerst noch auf die altmodische Steuerung per Texteingabe, präsentiert der Welt 1988 mit King’s Quest IV – The Perils of Rosella aber etwas bis heute sehr Seltenes: eine halbwegs glaubwürdige weibliche Hauptfigur. [Privater irrelevanter Einschub: auch heute noch scheinen die Testosteronbehälter in den Entwicklungs- und PR-Etagen der Branche Frauen nur von Wichsvorlagen oder als Barbiegirls zu kennen, nicht aber als, mann glaubt es kaum, 50 Prozent der potentiellen Kundschaft. Ah, das gibt tolle Google-Suchanfragen. Danke, lesen Sie jetzt weiter.]
Laura Bow wird Robertas nächste weibliche Hauptfigur in zwei Adventures, die in den Roaring Twenties spielen: The Colonel’s Bequest (1989) und The Dagger of Amon Ra (1992). Beides klassische Krimis im Stile Agatha Christies, weil Roberta Williams klassische Krimis im Stile Agatha Christies sehr mag. Und wie Christie ist sie die Königin ihres Genres.
King’s Quest geht 1998 in die achte und letzte Runde: The Mask of Eternity gerät zum Albtraumprojekt in 3D mit unglaublich langer Entwicklungszeit und ebensolchen Ladezeiten. Als es endlich auf den Markt kommt, verfluche und schlage ich vor Verzweiflung meinen Rechner, wie ich es bei keinem Spiel zuvor getan habe. King’s Quest VIII bleibt für mich das spielgewordene Symbol für den Tod der Gattung Adventure. Denn der immense Druck, Robertas Erzählweise mit moderner 3D-Action verknüpfen zu müssen, lässt einen Haufen Bugs, eine frickelige Steuerung und verbrecherische Laaadezeiten zurück.
Ach ja, apropos Scheitern. Da war doch 1995 noch Phantasmagoria. Alle Figuren werden von Schauspielern gespielt. Auf sieben CDs! Die Ambitionen sind hoch, die Kosten erst recht, denn die Schauspieler müssen monatelang vor Blue Screens gefilmt werden. Regie und Drehbuch: Roberta Williams. Sie wagt sehr viel, kehrt ihren kindgerechten Geschichten den Rücken, baut drastische Horrorszenen und sogar eine Vergewaltigung ein. Doch ihre Vorstellung von einem Spiel für Erwachsene scheitert an der mangelhaften Ausführung. Phantasmagoria wird in der Luft zerrissen.
Während der Neunziger etablieren sich andere Studios im 3D-Doomboom zu schnell, und zu schnell stirbt die Gattung Adventure, Sierras Fundament. Roberta und Ken Williams können das Ruder nicht mehr herumreißen. Robertas Stärke, mit einfachen Mitteln kleine lineare Geschichten zu erzählen, in denen einmal nicht Supermänner die Welt retten, ist nicht mehr gefragt.
Lawsuits going everywhere, back and forth now, it’s a messed up situation. They’re being sued by everyone for fraud. Had Ken and I known all this, we wouldn’t have sold to them. We thought we were selling to a good company.
(1999 im Interview)
Ihrer beider Lebenswerk, dieses große kleine Familienunternehmen mitten auf dem Land neben dem Nationalpark mit Mammutbäumen wird letztlich so oft aufgekauft, zerstückelt, verwaltet, relokalisiert und wieder zurückgekauft, dass ich komplett den Durchblick verloren habe. Ich dreh hier sowieso schon am Rad nach diesem exorbitant langen Text. Ja, King’s Quest mag ich nicht so sehr, und viele andere Adventures von Sierra auch nicht. Doch ich würde sofort vor Frau Williams auf die Knie fallen, ihr die Stiefeletten küssen und mit ihr in den Whirlpool hüpfen, wenn ich sie träfe.
Wie man hört, vergnügen sich Roberta, Ken und ihr Hund an Bord ihrer Jacht irgendwo auf den Meeren der Welt und schreiben Bücher darüber.
· Sierra Gamers.
· Brief zum Ende Sierras von Ken Williams.
· Interview auf WomenGamers.com.
· Sierra-Remakes von AGD Interactive.
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