Mein Name ist Fatima Younis Ahmed. Ich bin 18 Jahre alt und lebe mit neun Geschwistern zusammen in der Nähe von Jawhar, Somalia. Meine Mutter starb im Alter von 45, mein Vater mit 47 Jahren. Seit meinem 14. Lebensjahr gehe ich arbeiten. Natürlich habe ich keinen Schulabschluss, aber ich kann lesen und schreiben. In Somalia können das nur 14 Prozent der weiblichen Bevölkerung. Wie die meisten meiner Geschwister leide ich an Kropfbildung, Malaria und Unterernährung. Ich bin nur eine virtuelle Person, aber ich bin real. Realer, als ihr vor euren Monitoren in euren schönen Wohnungen wahr haben wollt.
Real Lives 2004 ist kein Spiel im engeren Sinne, sondern eine Lebenssimulation. Nicht geschönt und vorstädterisch oberflächlich wie Die Sims, nicht knuffig wie Harvest Moon und schon gar nicht grafisch ansprechend. Nicht unterhaltend. Soll es auch nicht. Laut Entwickler Educational Simulations richtet sich Real Lives vor allem an Schulen, Lehrer und deren Schüler. Unmengen statistischer Daten der UNO, Amnesty International oder der Encyclopedia Britannica erzeugen ein typisches Leben in einer beliebigen Region der Erde. Zufällig erzeugt oder auf Wunsch genau definiert.
In nur einer Stunde Spielzeit – nein, Unterricht – habe ich mehr über Fatima gelernt als durch die endlose Dummschwafelei eines Peter Scholl-Latour. Das ist die Stärke von Real Lives: ich sehe keine Dokumentation zur Lage in Somalia. Keine Interviews mit Fatima. Lese keine Biografie. Konsumiere ihr Leben nicht passiv. Denn ich durchlebe ihr Leben. Und das geht mir, dem anderen Ich da vor dem Bildschirm, stellenweise sehr nahe. Wenn zum Beispiel mein zweijähriger Bruder stirbt. Einfach so. Mit einem Klick vergeht wieder ein Jahr, ein neuer Bruder wird geboren, der Bürgerkrieg tobt seit 1977, mir (dem anderen mir) unvorstellbare Statistiken werden beiläufig erwähnt, wieder ein Malariaanfall, mein Schwager wird erschossen, so ist das Leben. Ich kann mein Essen nicht mehr bezahlen. Müll aufsammeln und verkaufen darf ich nicht, weil ich eine Frau bin.
Die Probleme von Anna aus Stuttgart sind da ganz anders: ewig Stress mit Jungs, die Qual der Wahl beim Totschlagen ihrer Freizeit, hin und wieder mit einer hübschen Depression zum Psychologen rennen. Eigene Wohnung mit 20, vielleicht Studium oder doch lieber einen Job. Nach dem zehnten Boyfriend einfach mal heiraten, Kinder großziehen und sich ein bisschen vor Krebs fürchten. So habe ich Annas Leben erwartet, und das meine ich nicht zynisch. Doch dann überrascht mich Real Lives selbst in Annas simulierten Leben:
The government in Germany is sending political refugees back to their home country even though they face death or torture there. What will you do?
• Expose this violation, understanding the grave risk.
• Try to help as I can without taking undue risk.
• Just focus on my own life and hope that things will improve.
• Support the government, right or wrong.
In typisch europäischer Manier war ich arrogant genug, an Menschenrechtskonflikte im eigenen Land nicht einmal zu denken. Solche Dämpfer und Denkanstösse treten in jedem simulierten Leben auf, ganz gleich, wo auf der Erde es sich abspielt.
Nein, Spielspaß im Wortsinne hat Real Lives nicht zu bieten. In die ersten 14 Lebensjahre kann man kaum eingreifen (wie im echten Leben eben), später beschränkt sich die Interaktion auf einige wenige wichtige Lebensentscheidungen. Statt eines alltäglichen Lebensablaufs wird ein Gesamtbild vermittelt, gespickt mit statistischen Daten, Infos und Fakten zur Region. Ob Anwalt in den USA, Bauer in China, Arzt in Australien oder Bauarbeiter in Chile – die Karrieren und Schicksale werden spröde, aber akkurat nachgezeichnet. Ja, auch so können Computer»spiele« sein.
Real Lives 2004 darf ohne Zeitlimit kostenlos getestet werden. Educational Simulations die 25 Dollar Kaufpreis zu bezahlen ist aber keine schlechte Idee, glaube ich.
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